Ephorus Pleitner im Interview mit der ELK in Württemberg
Am 23.07.21 erschien aus Anlass des Ruhestands unseres Ephorus Dr. Henning Pleitner ein Interview unter dem Titel “Die Menschen mit den Augen Gottes sehen” auf der Website der Evangelischen Landeskirche in Württemberg (Link):
„Die Menschen mit den Augen Gottes sehen“
Blaubeuren – da denken viele wahrscheinlich zunächst einmal an den legendären Blautopf. Aber der kleine Ort beherbergt noch eine andere Besonderheit: Das Evangelische Seminar in den Gebäuden eines ehemaligen Benediktinerklosters: eine kleine Internatsschule in landeskirchlicher Trägerschaft, die Schülerinnen und Schüler von der 9. Klasse an zum Abitur führt. Im Anschluss entscheidet sich etwa ein Viertel der Schülerinnen und Schüler für das Studium der Theologie. Nach 18 Schuljahren geht nun der Ephorus – also der Schul- und Internatsleiter des Seminars – Dr. Henning Pleitner in den Ruhestand. Im Interview erzählt er von den Besonderheiten dieser Schulform und von den Chancen, die sie bietet.
Was ist das Besondere und Wertvolle an der Schulform „Evangelisches Seminar“ im 21. Jahrhundert?
Dr. Henning Pleitner: Wir haben ein einzigartiges pädagogisches Konzept: Bei uns sind die Lehrer auch die Erzieher. Wir haben keine quasi hauptamtlichen Erzieher, Psychologen, Sozialarbeiter. Fast alle Lehrerinnen und Lehrer wohnen mit ihren Familien hier auf dem Campus und haben deshalb auch viel privaten Kontakt zu den Schülern. Sie können dadurch Konflikten nicht aus dem Weg gehen, und das ist sehr wertvoll. Jeder Lehrer arbeitet auch im Internat in der Betreuung und zum Beispiel im Nachtdienst mit. Dadurch kennen wir die Kinder von vielen Seiten. Das ist uns sehr wichtig.
Ich sage immer: Es geht darum, den Menschen mit den Augen Gottes zu sehen, und das heißt auch: möglichst umfassend. Je mehr Facetten Sie wahrnehmen, desto besser können Sie den einzelnen wertschätzen. Und nur wenn Sie Schüler freundlich anschauen, ihre Stärken sehen, können Sie sie vernünftig fördern.
Was könnten normale Schulen von den Seminaren lernen?
Dr. Henning Pleitner: Vieles lässt sich nicht übertragen, aber Gedankenspiele sind ja erlaubt, zum Beispiel dieses: Wer an einer normalen Schule 25 Stunden unterrichtet, begegnet viel zu vielen Schülern, um sich noch auf den Einzelnen einstellen zu können. Das wäre eine Überforderung. Also warum setzt man nicht wie bei uns die Lehrer zum Teil auch anders ein? Bei uns sind sie zu einem Drittel im Internat oder in AGs. Warum haben Lehrer nicht zu einem Drittel einen anderen Job, etwa als Sozialarbeiter, in der Stadtverwaltung oder was auch immer? Es täte den Lehrern gut, auch außerhalb der Schule zu arbeiten und aus der Einseitigkeit des Unterrichtens rauszukommen.
Auch nur schwer zu übertragen: konsequent stärkenorientiert zu arbeiten. Wenn jemand in Mathe schlecht ist, dann braucht er vor der Mathenachhilfe erst einmal positive Erfahrungen eigener Stärken, damit er lernt, dass es etwas bringt, wenn er sich anstrengt. Dafür braucht man natürlich viel Zeit und viel Kommunikation zwischen den Lehrern. Und an einer Schule mit 2000 Schülern ist das so nicht möglich.
Wird die Schulform Evangelisches Seminar ihre Attraktivität behalten?
Dr. Henning Pleitner: Sie wird sich wandeln und anpassen müssen. Aktuell werden die Seminare vom Seminarvertrag mit dem Land gehalten und strukturiert. Das ist gut, aber auch eine gewisse Einengung. Wenn ich darüber hinausdenken sollte, würde ich sagen: Macht aus den Seminaren Zentren für religiöse Kompetenz, und zwar auch über die christliche Orientierung hinaus in gelebter Auseinandersetzung mit anderen Religionen. Nehmt auch einige wenige Kinder aus anderen Religionen auf, feiert deren Feste mit, schickt die Schüler zu Auslandsaufenthalten in die entsprechenden Länder und Kulturen. Vermittelt Sprachfähigkeit für die Kommunikation zwischen den Kulturen und Religionen. Das ist mein Traum, aber das passt nicht wirklich mit dem aktuellen Seminarvertrag zusammen.
Aus welchen gesellschaftlichen Gruppen kommen die Schülerinnen und Schüler?
Dr. Henning Pleitner: Ungefähr die Hälfte kommt aus drei Berufsgruppen: Lehrer/Professoren, Ärzte und Pfarrer. Mein Kummer ist, dass sich wenige Eltern aus sozial schwierigen Verhältnissen trauen, uns ihre Kinder zu schicken, weil Internat immer noch den Ruf des Elitären hat. Dabei spielt Geld bei uns keine Rolle. Die Kosten liegen unter dem Höchstsatz des Schülerbafög, das ja noch nicht einmal zurückgezahlt werden muss. Und Statussymbole spielen bei uns auch keine Rolle.
Solche Kinder können hier eine tolle Chance bekommen. Ein Beispiel: Wir hatten von einem Mädchen aus sozial sehr schwachem Elternhaus gehört, das zweimal den Sprung von der Förderschule auf die Hauptschule nicht geschafft hatte – aber als Hobby Finnisch lernte und mehrere Instrumente spielte. Wir haben das Mädchen kennengelernt und von der 9. Klasse der Förderschule bei uns in die 9. Klasse mit verschärftem Profil eingeschleust. Jetzt ist sie Stipendiatin einer Studienstiftung und studiert an einer englischen Universität.
Wenn Sie in Gedanken Schülerinnen und Schüler von heute neben die von vor 20 Jahren stellen – wie haben sich die Jugendlichen verändert?
Dr. Henning Pleitner: Massiv! Sie verändern sich alle drei Jahre. Es gab während meiner Zeit als Ephorus mehrere Wellen. Zu Beginn waren die jungen Leute so, wie man sich Pubertät vorstellt: radikal gegen alles, was die Eltern gut fanden. Dann änderte sich das, und auf einmal waren die Eltern das größte Vorbild. Jetzt aktuell sind die Jugendlichen wieder ein bisschen widerborstiger. Ein anderes Beispiel: Die Jugendlichen werden heute durch das Internet geprägt, durch Spiele und große Vernetzung. Sie haben dort immer ganz viele Optionen offen. Und entsprechend wollen sie sich sehr lange nicht festlegen, zum Beispiel bei der Berufswahl und in Partnerschaften.
Und auch die Fähigkeiten verändern sich. Die Fähigkeit, Texte zu erfassen, hat deutlich abgenommen. Aber bei der Erfassung der Inhalte von Filmen und Videos hängen sie uns Ältere weit, weit ab. In Summe sind die Kompetenzen gleich stark, aber anders verteilt. Und das wirkt sich auch auf Verhaltensweisen und Werte aus.
Wir haben jetzt zwei Jahre lang ein Seminar über Digitalisierung gemacht und haben gelernt, dass der Wandel durch die Digitalisierung so schnell und so radikal verläuft wie kein Wandel zuvor, etwa im Vergleich zur viel langsameren Phase der Industrialisierung. Es ist gut, dass die Jugendlichen jetzt dort hineinwachsen.
Wie macht sich das in der Schule selbst und im Zusammenleben im Internat bemerkbar?
Dr. Henning Pleitner: Im Moment schotten wir uns ein Stück weit ab. Die 9er und 10er müssen ihre Handys abgeben, und sie haben auch keine privaten Computer. Wir wollen vermeiden, dass Jugendliche in der digitalen Welt versumpfen und verloren gehen, etwa in Spielwelten. Das ist natürlich erst einmal hart für die Jugendlichen.
Das wollen wir aber umstellen. Im nächsten Schuljahr soll jeder Schüler ein Tablet bekommen, das verzögert sich gerade noch aus technischen Gründen. Die Digitalisierung des Unterrichts ist notwendig und bietet viele Möglichkeiten, aber sie auch ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, denn allein dadurch, dass die Geräte da sind, ist eine Schule noch nicht digital. Ein Beispiel: Bei uns lernen alle Altgriechisch, und dafür ist die Haptik wichtig. Wenn Sie das nicht mit der Hand schreiben, können Sie es nicht lernen. Die konzeptionelle Herausforderung wird sein, sich didaktisch und pädagogisch genau zu überlegen: Wo brauchen wir die klassische Haptik, und sei es auf einem Tablet, und wo können wir die Schüler selbst mit Videos und anderen innovativen Formaten arbeiten lassen?
Wirkt sich die Digitalisierung auch im Sozialverhalten der Schülerinnen und Schüler aus?
Dr. Henning Pleitner: Bei uns weniger, denn wir leben im Internat ja sehr eng zusammen. Wir haben für die Jugendlichen Reibungsflächen eingebaut, zum Beispiel einen Fernsehraum für die ganze Mittelstufe. Das heißt, da müssen sich 50 einigen, welchen Film sie anschauen. Sie müssen herausfinden, wie sie zu einem für alle guten Ergebnis kommen. Wir haben viele solche Reibungsflächen, zum Beispiel keine Einzelzimmer in der Mittelstufe, kein eigenes Waschbecken, keine abschließbaren Schränke. Daraus entwickelt sich bei fast allen ein gutes Sozialverhalten.
Nach 18 Schuljahren als Ephorus in Blaubeuren – welches Fazit Ihrer Arbeit ziehen Sie?
Dr. Henning Pleitner: Vielen Jugendlichen weitergeholfen und einige gerettet zu haben. Das ist für mich das Wichtigste. Ich konnte Kindern helfen, die sonst nicht weitergekommen wären.
Welcher Aspekt Ihrer Arbeit hat Ihnen besonders viel Freude gemacht?
Dr. Henning Pleitner: Menschen zu helfen und möglich zu machen, dass ihnen geholfen wird – da bin ich einfach ganz Pfarrer.
Viel Freude hat mir auch gemacht, im Rahmen der Bauarbeiten die Geschichte dieses Ortes zu erkunden und in und mit dieser Geschichte zu leben. Unseren Speisesaal gibt es seit 1300, aber er ist erbaut auf dem ersten Kloster, da sind also nochmal 300 Jahre drunter. Das Zimmer, in dem wir hier sprechen, stammt in seiner jetzigen Form aus dem Jahr 1480. Mit dieser Geschichte zu leben, ist auch für die Schüler wichtig.
Wie unterscheidet sich die Arbeit als Ephorus von der Arbeit eines normalen Schulleiters?
Dr. Henning Pleitner: Sie unterscheidet sich radikal. Nur etwa ein Drittel meiner Arbeit betrifft die klassische Schulleitung. Das liegt daran, dass ich zum Beispiel auch für die Gebäude wirtschaftlich zuständig bin und für alles, was damit zusammenhängt. Wir haben einen touristischen Bereich, einen Laden, arbeiten bei Veranstaltungen mit der Stadt zusammen. Das Seminar hat viel mehr Freiheit und Selbstverantwortung als normale staatliche Schulen. Das ist klasse, denn man kann viel machen. Zudem leitet der Ephorus auch das Internat, und ich habe immer voll im Internat mitgearbeitet, zum Beispiel bei den Nachtdiensten.
Was wünschen Sie Ihrem Nachfolger?
Dr. Henning Pleitner: Ein großes Herz und viel Verständnis für die Schüler, aber das hat er schon. Und Geduld, Geduld, Geduld.
Was haben Sie für Ihren Ruhestand vor?
Dr. Henning Pleitner: Meine Frau – seit letztem Jahr im Ruhestand – möchte als Auslandspfarrerin arbeiten und ich gehe als Begleitperson mit. Wir haben uns für Teneriffa, Kreta und Zypern beworben und hoffen, dass es eins der drei wird.