Hermann Hesse in Blaubeuren
Die geheime Inspiration hinter „Narziß und Goldmund“ entdeckt Hermann Hesses Blaubeuren-Besuche und ihre Spuren in Literatur und Leben: Ein Vortrag voller bewegender Einblicke und inspirierender Details.
„Mit Fug und Recht können wir behaupten, dass ‚Narziss und Goldmund hier in Blaubeuren entstanden ist. Hesses Aufenthalte in Blaubeuren haben sein Werk maßgeblich beeinflusst. Blaubeuren könnte zur Hesse-Stadt werden“, so lautet das Fazit von Literaturwissenschaftler Dr. Rüdiger Krüger aus Halle/Westfalen bei seinem Vortrag im Evangelischen Seminar Blaubeuren.
Die Idee zu „100 Jahre Hesse in Blaubeuren“ hatte Stephan Buck, Gästeführer in Blaubeuren, spezialisiert auf Literaturführungen. Er besitzt eine Erstausgabe von Hesses „Nürnberger Reise“: Auf dem Titelbild ist das Kloster Blaubeuren zu erkennen, auf der ersten Innenseite die „Schöne Lau“. Im Gästebuch des Seminars findet sich am 1. November 1925 die Originalunterschrift von Hermann Hesse. Ziel des Projekts war, den Einfluss von insgesamt fünf Aufenthalten in Blaubeuren auf das Werk des Literatur-Nobelpreisträgers zu erforschen, sein erster Besuch erfolgte 1925. In Kooperation mit dem Evangelischen Seminar, der Volkshochschule und der Touristinfo entstand eine zweiteilige Veranstaltungsreihe „100 Jahre Hesse in Blaubeuren“, die manch Neues zu Hesse und seinem Werk zutage förderte und auf großes Interesse von Hesse-Fans aus der ganzen Region stieß.
Eine Klosterführung von Stephan Buck am Sonntagnachmittag führte direkt zum Hochaltar. Wichtig zur Gründung des Klosters an diesem Ort durch die Pfalzgrafen von Tübingen und die in Blaubeuren ansässigen Grafen von Ruck sei gewesen, dass „30 Meter Luftlinie“ entfernt der Blautopf lag, also die Wasserversorgung des Klosters gesichert war. Durch den Johannesbrunnen im Klosterhof war bereits eine Kultstätte vorhanden. Vor dem Hochaltar stellte Buck die Gesamtkomposition im Detail vor und beschrieb die Arbeit der 50 Bildhauer, Holzschnitzer, Maler, die sich in der „Ulmer Schule“ zusammengetan hatten. Der Ulmer Hochaltar fiel dem Bildersturm zum Opfer, der Blaubeurer Hochaltar konnte gerettet werden und zählt zu den beeindruckendsten Werken der Spätgotik.
Sebastian Pfahler, ehemaliger Seminarist, heute Kirchenmusikstudent, bereicherte die Veranstaltung durch Orgelmusik von Bach und Mendelssohn und eine freie Improvisation zu Hesses Gedicht „Der blaue Schmetterling“.
Im zweiten Teil der Veranstaltung trug Dr. Rüdiger Krüger die Mikrogeschichte „Johannes“ vor, – von ihm als Schriftsteller und PEN-Mitglied publiziert als „Siegfried Carl“. Mikrogeschichten sind keine wissenschaftlichen Abhandlungen, jedoch an historische Ereignisse anknüpfend im Sinne eines „so mag es gewesen sein….“. Die etwa fünfzig Interessierten erfuhren auf diese Weise Hesses Motive seiner ersten Reise nach Blaubeuren: 1925 war er schon ein bekannter Schriftsteller, ging eigentlich ungern auf Lesereisen. Blaubeuren war die erste Station einer Bahnreise, die über Ulm, Augsburg, München nach Nürnberg führte, es resultierte daraus das Werk „Die Nürnberger Reise“. Anlass seines Halts in Blaubeuren war ein Besuch bei seinem Jugendfreund Wilhelm Häcker, der seit 30 Jahren Lehrer am Evangelischen Seminar war.
Ungleiche Freunde waren es, zeitweilig voneinander entfremdet aufgrund gegensätzlicher Charaktere. Biografisch ging es Hesse im Herbst 1925 nach gescheiterter erster Ehe und problematischer zweiter Ehe nicht gut, er „drohte abzustürzen“. Der Besuch im Seminar Blaubeuren weckte leidvolle Erinnerungen an seine eigene Schulzeit im Seminar Maulbronn, geprägt von obrigkeitlicher Regelkonformität und (damals üblichen) Züchtigungserfahrungen, nur ein halbes Jahr blieb er dort. Hesse hält sich daher fern vom Blaubeurer Seminarbetrieb. Als Mörike-Verehrer begibt er sich jedoch auf die Spuren der „Schönen Lau“, lässt sich gar vom Hausmeister des Klosters in das Kellergewölbe des Nonnenhofs führen, in dem die Lau der Legende nach aufgestiegen sei, trifft jedoch nur auf einen „Betondeckel“.
Sehr ausführlich beschäftigt er sich mit den ausdrucksstarken Schnitzereien des Hochaltars – später wird auch sein „Goldmund“ zum Holzschnitzer. Der vollbärtige Johannes der Täufer weckt Assoziationen an seinen Vater Johannes, den strengen pietistischen Indienmissionar, der seinem erwachsenen, berühmt gewordenen Sohn mit Unverständnis begegnet. Die Darstellung der Gottesmutter Maria erinnert ihn an seine Mutter Marie, „die große Dulderin“. Ein überlieferter wirr-wunderlicher Traum mit all den Facetten des Blaubeuren-Besuchs kann rückblickend als Grundidee zu Hesses Erzählung „Narziß und Goldmund“ interpretiert werden.
Nach einem „Intermezzo“ von Mozart, vorgetragen von Seminarist Paul Graf am Piano, hieß Ephorus Jochen Scheffler etwa fünfzig Vortragsbesucher willkommen, unter ihnen auch heutige und ehemalige Seminaristen, und berichtete, dass die Seminaristen das „Hesse-Jubiläum“ schon einleitend begangen hätten mit Hesses Lieblingsessen „Maultaschen mit Kartoffelsalat“ und einer Besichtigung des ebenfalls von Hesse besichtigten Kellergewölbes im Bandhaus. Mit der literaturwissenschaftlichen Einordnung von Hesses Blaubeuren-Besuchen war Rüdiger Krüger beauftragt.
„Meiner anfänglichen Begeisterung für Siddharta und Steppenwolf ist Ernüchterung gewichen“, fasste Krüger seine persönliche Sicht auf Hesse zusammen und zählte biographische Stationen auf: Hesses Eltern waren Missionare in Indien, geboren wurde er jedoch in Calw. „Hesse ist nie warm geworden mit seiner Heimatstadt“, konstatierte er, – doch diese vermarktet ihn touristisch und investiert gerade in ein großes „Hesse-Museum“.
Als Jugendlicher flieht Hesse aus dem Kloster Maulbronn – im Roman „Narziss und Goldmund“ wird es zu „Kloster Mariabronn“ – gerät in tiefe psychische Krisen, unternimmt einen Selbstmordversuch. Er absolviert eine Buchhändlerlehre, arbeitet nebenbei literarisch, veröffentlicht 1904 „Camenzind“, 1906 „Unterm Rad“ zur Verarbeitung seiner Kindheit und Jugend.
Zeitungspublikationen zum Broterwerb veröffentlicht Hesse unter dem Pseudonym Emil Sinclair. Drei Söhne hat er mit seiner ersten Ehefrau Maria Bernouili, „einer tollen Photographin“, die an Schizophrenie erkrankt. Hesse verlässt extrem belastet die Familie, beginnt nach einem Nervenzusammenbruch mit einer Psychotherapie.
Hesse selbst war im Gegensatz zu seinen Missionarseltern nie in Indien, war jedoch geprägt durch familiäre Erzählungen und intensiver Beschäftigung mit Buddhismus und Hinduismus. In seinen Büchern „Siddharta“ (veröffentlicht 1922) und „Steppenwolf (1927)“ arbeitet er psychische Verwicklungen, Zerrissenheit und Scheitern auf: „Er hat sich alles von der Seele geschrieben“ (Krüger). Beide Romane wurden zu Kultbüchern westlicher Jugendbewegungen in den 60er, 70er, 80er Jahren, – weitverbreitet in den USA.
Bereits 1924 wird Hesse Schweizer Staatsbürger, heiratet die aus wohlhabender Familie stammende Ruth Wenger, Scheidung nach drei Jahren. Glücklich scheint seine dritte Ehe, ab 1931, mit Ninon Dolbin. Er schreibt von 1932 bis 1943 das „Glasperlenspiel“, – „sein bestes, sehr vielschichtiges Werk“ (Krüger). Von 1939 bis 1945 gehörte Hesse zu den unerwünschten Autoren in Nazi-Deutschland.
Als Schweizer erhält er 1946 den Literaturnobelpreis für sein „humanistisches, spirituelles und zeitloses Werk“, – ein Signal an die Nachkriegswelt -, 1955 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Das Fazit des Literaturwissenschaftlers: In Blaubeuren fühlte sich Hesse wohl in seiner auch sprachlich vertrauten schwäbischen Heimat, ist angekommen in der Erlebnis- und Gedankenwelt seiner Jugend, in der märchenhaft-inspirierenden Unterwelt der „Schönen Lau“. Hesse schrieb: „Alles besuchten und besahen wir mit Liebe, den berühmten Altar, das Chorgestühl, die entzückenden Gewölbe.“ Er ist in Blaubeuren eingetaucht in die Aura des Klosters und wird inspiriert: „Angeträumt“ hat er „Narziß und Goldmund“, handelnd von gegensätzlichen Jugendfreunden, sein Held Goldmund ist ein Holzbildhauer aus der Zeit um 1400.
Der Referent erhielt lang anhaltenden Beifall für seinen vielschichtigen, unterhaltsamen Vortrag.
Ilse Fischer-Giovante, Schwäbische Zeitung, 11.11.2025
